Finanzielle Krisen
Fall 3Einmal mehr zeigt sich, wozu finanzielle Sorgen vermeintlich anständige Menschen treiben – eine Geschichte von Äpfeln und Hopfen...
Guido Weiß (GW) ist mit Leib und Seele Friseur. Als Stammkundin liebt Gülcan Özakin-Petersen (GÖ) nicht nur das Ambiente im hippen Salon von GW, sondern vor allem die angeregten Gespräche mit diesem über den neusten Tratsch und Klatsch. Besonders nach einem stressigen Schultag wie heute, sehnt sie sich nach etwas entspannten „Smalltalk“ im Salon. GW merkt bereits bei der Begrüßung, dass GÖ heute äußerst gestresst wirkt. Auf die Nachfrage, was ihr denn Sorgen bereite, sprudelt es plötzlich aus GÖ heraus. Als Vertrauenslehrerein der 12. Klasse sei der volljährige Kevin Hesner (K) auf sie zu gekommen und habe ihr von einer Straftat berichtet, die er begangen habe. K sei einer ihrer Lieblingsschüler und sie könne einfach nicht verstehen, wie er sich zu einem solchen Verhalten hat hinreißen lassen. Dabei weiß GÖ über die schwierige finanzielle Situation der Familie Hesner. Laut K wollte er sich das neue „iPad-Pro“ besorgen, um auch endlich einmal dazuzugehören. Alle anderen Schüler würden tagtäglich mit den neusten Smartphones und Tablets in der Schule aufwarten und er wollte nicht für immer als uncooler Außenseiten und Loser gesehen werden. Deshalb entschloss er sich, einen Tabletcomputer vom Typ „iPad Pro“ ohne Bezahlung vom MEDIMAX im Kieler Sophienhof „zu besorgen“. Es war nach seiner Aussage sogar ganz einfach. Er sprach den Verkäufer Xavier Momsen (X) an und fragte diesen, ob er sich ein entsprechendes Gerät einmal näher anschauen könnte. „Aber sicher, überzeugen Sie sich ruhig von der unschlagbaren Qualität unserer Produkte“, habe X gesagt und gab K ein betriebsbereites Ausstellungsstück, bei dem er zuvor gerade einige Softwareupdates installiert hatte. Danach wartete K bis X in ein neues Kundengespräch verwickelt wurde. Er nutze die Unaufmerksamkeit des X und stöpselte die Kabel des iPads ab. Daraufhin nahm er das Gerät, das er die gesamte Zeit in der Hand gehalten hat, unter seinen Arm und verließ zügig den Laden durch den vom Kassenbereich getrennten Ein- und Ausgangsbereich, der für jedermann frei zugänglich ist. X bemerkte dies jedoch aus dem Augenwinkel und rannte K laut schreiend hinterher. Damit hatte K nicht gerechnet. Als K den MEDIMAX gerade verlassen hatte, erreichte X diesen noch in der Ladenpassage und packte ihn am Arm. K wollte das iPad jedoch auf jeden Fall haben, weshalb er sich umdrehte und X kurzerhand mit einem gezielten Faustschlag zu Boden streckte. Daraufhin rannte er zum Ausgang und verließ den Sophienhof schnell über die Fußgängerbrücke zum Bahnhof in Richtung der Hörn. Was K gegenüber der GÖ verschwiegen hat, war die Tatsache, dass er die ganze Zeit über ein zusammengeklapptes Taschenmesser mit Schraubenzieher, Korkenzieher, Nagelfeile, Schere etc. und einer Klinge mit etwa 10 cm Länge in seiner linken Hosentasche bei sich trug. K hat dieses Messer seit Jahren stets dabei. Während des Geschehens im Sophienhof war ihm durchaus bewusst, dass das Messer in seiner Hosentasche steckte, gegen Menschen verwenden wollte er es aber auf keinen Fall.
Inga Rowski (I) ist eine sehr umtriebige und an der Wirtschaftlichkeit ihrer kleinen Kneipe „Hafenbursche“ interessierte Wirtin. Aufgrund der stetig zunehmenden Kneipendichte in Kiel wird es für sie immer schwieriger gewinnbringend zu haushalten. Deshalb hat I folgenden Einfall: Sie verkauft einfach importiertes tschechisches Bier als „heimisches Kieler-Bier“, um durch vorgespiegelte Regionalität neue Gäste zu gewinnen. I verkauft das Bier in der Kneipe zu einem Preis von 5 Euro. Dabei sind die verkauften Biere durchaus ihr Geld wert, auch wenn sie nicht im Kieler Umland gebraut wurden. Joël Maximilian Rosenboom (J) der nach einem Streit mit seiner Freundin Sophie Albrecht (S) etwas Abstand und Zerstreuung sucht, findet an diesem Abend seinen Weg in den „Hafenburschen“. Ihm fällt gleich das super Angebot eines regionalen Bieres für 5 Euro ins Auge. Ohne großes Zögern erwirbt er von I ein solches Bier. Später erfährt J von einem Kommilitonen, der als Kellner im „Hafenburschen“ arbeitet, von der wahren Herkunft des Bieres. J ist empört, denn ihm war es wichtig, ein regionales Produkt aus Schleswig-Holstein zu erwerben.
Prüfen Sie die Strafbarkeit von K und I nach dem StGB!
1. Handlungsabschnitt: Im und vor dem Medimax-Elektronikmarkt – Strafbarkeit des K
Kommen mehrere Handlungen als Anknüpfung für die Strafbarkeit innerhalb eines Handlungsabschnitts in Betracht, so sollte durchaus chronologisch geprüft werden. Im vorliegenden Fall ist diese Vorgehensweise jedenfalls am übersichtlichsten. Folgende Handlungen kommen für ein strafrechtlich relevantes Verhalten in Betracht:
- Täuschung des Verkäufers: § 263
- Weglaufen mit dem iPad: § 242
- Schlag: § 249 oder § 252
A. Betrug gem. § 263 I gegenüber X zum Nachteil der Medimax-GmbH
Siehe Bild rechts
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a)
Siehe Bild rechts
- Ausdrückliche Täuschung (-)
- Konkludente Täuschung (+), weil K nach dem objektiven Empfängerhorizont erklärt, das iPad innerhalb des Geschäftes betrachten zu wollen, um es ggf. käuflich zu erwerben
b)
- Sachgedankliches Mitbewusstsein des X ist ausreichend
c)
Eine Vermögensverfügung ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt.
Zur Abgrenzung des Sachbetrugs vom Diebstahl ist es erforderlich, dass das Verfügungsverhalten beim Sachbetrug eine unmittelbare Vermögensminderung bewirkt und der Verfügende mit Verfügungsbewusstsein sowie freiwillig handelte.
Der Verfügungsgegenstand ist der Gewahrsam – nicht das Eigentum – an dem iPad Pro. Das iPad befand sich noch im Ladengeschäft und damit im generellen Herrschaftsbereich, also noch innerhalb der Gewahrsamssphäre des Marktleiters, so dass nur eine Gewahrsamslockerung und damit noch keine Vermögensminderung vorliegt.
2. Zwischenergebnis: Tatbestand mangels
II. Ergebnis: § 263
B. Raub gem. § 249 I
Siehe Bild rechts
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Einsatz eines qualifizierten
-
Schlag mit der Faust ins Gesicht
b) Wegnahme einer fremden beweglichen
Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen Gewahrsams.
Gewahrsam ist die tatsächlich-soziale, von einem Herrschaftswillen getragene Herrschaft einer natürlichen Person über eine Sache. Entstehung, Umfang und Reichweite des Gewahrsams richten sich maßgeblich nach der Verkehrsauffassung, d.h. nach der sozialen Zuordnung von Sachherrschaftsbeziehungen.
- Ursprünglicher Gewahrsamsinhaber: Marktleiter der Medimax GmbH, denn das iPad Pro – eine fremde bewegliche Sache – befand sich in seiner Herrschaftssphäre
- Neuer Gewahrsam: K, spätestens in dem Moment, in dem K die Ladenpassage des Sophienhofs mit dem iPad Pro verließ
- Durch Bruch: Gegen den Willen des Marktleiters
c) Verknüpfung zwischen Gewalt und
Die Wegnahme wird beim Raub erst durch den Einsatz des Nötigungsmittels ermöglicht. Damit scheidet eine Strafbarkeit wegen Raubes aus, wenn eine Gewahrsamsverschiebung zum Zeitpunkt der Nötigung bereits stattgefunden hat.
Diese Frage wird mit Hilfe der Kriterien des faktisch-sozialen Gewahrsamsbegriffs beantwortet.
- Im Geschäft: keine optimale Beherrschungsmöglichkeit
- Nach Verlassen des Medimax: außerhalb des Ladengeschäfts und damit außerhalb der Herrschaftssphäre, aber Beobachtung des X spricht gegen optimale Beherrschungsmöglichkeit, dagegen: Beobachtung verhindert nicht die Überführung des Gegenstandes in die Gewahrsamssphäre des K
- Gewahrsam wurde mit Verlassen des Medimax begründet; daher war die Wegnahme zum Zeitpunkt der Gewaltanwendung bereits vollendet, so dass die Gewalt nicht zum Zwecke der Wegnahme eingesetzt wurde
2. Zwischenergebnis: objektiver
II. Ergebnis: § 249
C. Schwerer räuberischer Diebstahl gemäß §§ 252 I, 250 I Nr. 1
Siehe Bild rechts
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Einsatz eines qualifizierten
b) Diebstahl als
- Vorsätzliche Wegnahme einer fremden beweglichen Sache mit Zueignungsabsicht
c) Bei einem Diebstahl auf frischer Tat
aa) Betroffen
K wurde als Täter wahrgenommen.
bb) Auf frischer
Der Diebstahl war noch nicht beendet und K hatte noch keinen gesicherten Gewahrsam.
d) Bei-Sich-Führen eines gefährlichen Werkzeugs gem. § 250 I Nr. 1a
aa)
bb) Gefährliches
(1)
(2)
(a) Objektive
- Objektiv-abstrakte waffenähnliche bzw. waffenersetzende Gefährlichkeit: 10 cm lange Klinge
(b) Subjektive
- Begrenzung des Gefährlichkeitsmerkmals auf subjektiver Ebene: innerer Verwendungsvorbehalt
- K erwog zu keinem Zeitpunkt den Einsatz des Taschenmessers als waffenähnlichen Gegenstand oder zur Unterstützung der Drohung
(c) Stellungnahme
- Wortlaut: § 250 I Nr. 1a verlangt kein zusätzliches subjektives Merkmal
- Systematik und Telos: Die Absicht, das Werkzeug gegen Personen einzusetzen, wird nur von § 250 I Nr. 1b StGB gefordert; Umkehrschluss: § 250 I Nr. 1a verlangt eine solche subjektive Komponente gerade nicht verlangt; gefährliches Werkzeug (+)
(3)
2. Subjektiver Tatbestand
a)
b)
II. Rechtswidrigkeit und
III. Ergebnis: §§ 252 I, 250 I Nr.
D. Körperverletzung gemäß § 223
E. Ergebnis und Konkurrenzen: §§ 252 I, 250 I Nr. 1a, 223 I,
2. Handlungsabschnitt: Das "Kieler-Bier"
Betrug gem. § 263 I – Strafbarkeit der I
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a)
- Konkludente Täuschung
b)
c)
- Zahlung der 5 €
d)
Ein Vermögensschaden liegt vor, wenn die aufgrund der Verfügung eingetretene Minderung des Vermögens nicht durch einen unmittelbar mit ihr verbundenen Vermögenszuwachs vollständig ausgeglichen wird. Ob ein Vermögensschaden besteht, wird in einem Vergleich der Vermögenslagen des Opfers vor und nach der Vermögensverfügung festgestellt. Dies geschieht im Wege der Saldierung.
Vergleicht man die Vermögenslagen vor und nach der Verfügung, so hat J keinen Schaden erlitten, weil das Bier 5 € gekostet hat und 5 € wert war.
Der zwischen I und J vorausgesetzte Zweck ist nicht erreicht worden. Eine Zweckverfehlung könnte man in den engen Grenzen eines individuellen Schadenseinschlags als Schaden begreifen. Dies setzt aber mindestens voraus, dass es sich um eine für J völlig unbrauchbare Leistung handelt. J konnte das Bier jedoch problemlos trinken. Die Herkunft des Bieres spielt für seinen Verzehr keine Rolle.
Allerdings ist auch der nach der Parteivereinbarung vorausgesetzte Zweck nicht erreicht worden. Schadensbegründend wäre dann der Umstand, dass J das Geschäft niemals getätigt hätte, wenn er von Anfang an gewusst hätte, dass es sich nicht um ein regionales Produkt aus Kiel handelt.
Eine solche weite versubjektivierte Auslegung führt aber faktisch zu einer "Verschleifung" des Tatbestandsmerkmals "Vermögensschaden" mit den Merkmalen "Irrtum" und "Vermögensverfügung". Denn immer, wenn das Opfer nicht irrtumsfrei verfügt hätte, müsste man automatisch einen Vermögensschaden annehmen, womit dieses Merkmal seine eigene einschränkende Funktion verlieren würde. Daher ist Schutzgut des § 263 das reine Vermögen, das hier nicht geschädigt wurde.